Dissonance

Grammont Sélection 4

Werke von Roland Moser, Michael Pelzel, Oscar Bianchi, Helena Winkelman, Urban Mäder, Caroline Charrière, Franz Furrer-Münch, Alfred Zimmerlin, Fritz Hauser, Xavier Dayer, Cécile Marti, Stefan Wirth, Nadir Vassena

diverse Interpreten

Musiques Suisses/Grammont Portrait MGB CTS-M 130 (2 CDs)

Stefan Fricke

 

 

Cover Grammont Sélection 4


Dass die Schweiz eine überaus rege zeitgenössische Musikszene ihr eigen nennt, steht ausser Frage. Es mangelt nicht an Engagement. Der Schweizer Tonkünstlerverein ist umtriebig, veranstaltet seine jährlichen Feste. Es gibt viele regionale Gesellschaften zur Pflege der neuen Gegenwartsmusik, etliche Festivals in den Städten und auf dem Lande, zahlreiche Ensembles. Auch die schweizerischen Hochschulen verschreiben sich mehr dem Jetzt als je zuvor. Eine löbliche, zukunftsweisende Situation, geprägt und durchdrungen von einer bemerkenswerten Vielstimmigkeit und bunten Vielfalt. Sicher könnte es hier und da Verbesserungen geben, könnten geschickte Strukturmassnahmen dem immer noch zarten Pflänzchen Neue Musik den notwendigen Dünger zum schnelleren und nachhaltigeren Wachstum spenden. Dazu bedarf es allerdings Visionen. Und einige gibt es schon.


So etwa die von Musiques Suisses initiierte und verantwortete CD-Edition «Grammont Sélection», die seit einiger Zeit die jährlichen «Best-Off»-Kompositionen helvetischer Provenienz versammelt und national wie international distribuiert. Einmal per anno. Natürlich stellen sich hierbei, nicht nur angesichts der kaum finalisiert zu nennenden Kanon-Diskussionen der letzten Jahre, einige Fragen: Welche Voraussetzungen muss ein «Best-Off»-Werk erfüllen, um der «Sélection» würdig zu sein? Wer legt die Kriterien dazu fest? Wer kompiliert die «Sélection»?


Für die unlängst erschienene Nummer 4 mit Uraufführungen aus dem Jahre 2010 lassen sich einige Fragen schnell beantworten. Mit der Zusammenstellung der CD wurde Mark Sattler beauftragt, der auch den Booklettext (z)eidgenössisCH – Älplermusik und Avantgarde verfasst hat. Sattler, der zweifellos ein profunder Kenner der Schweizer und der internationalen Neue-Musik-Szene ist, nennt darin auch einige Aspekte, die zu dieser akustischen Anthologie geführt haben. Es gehe darum, die «Vielfältigkeit der Neuen Schweizer Musik aufzeigen, also eine grosse Bandbreite an Stilen und Sprachen». D’accord, das demonstriert die «Sélection» anschaulich. Zudem «mögen die Werke auf dieser CD ein partielles Abbild der Uraufführungen eines reichhaltigen Schweizer Tonkünstlerfestes 2010 geben.» Das tun die zwei CDs auch. Denn von den insgesamt 24 Premieren beim besagten Festival dokumentieren sie immerhin 13: Werke von Roland Moser, Michael Pelzel, Oscar Bianchi, Helena Winkelman, Urban Mäder, Caroline Charrière, Franz Furrer-Münch, Alfred Zimmerlin, Fritz Hauser, Xavier Dayer, Cécile Marti, Stefan Wirth, Nadir Vassena. Die Tonkünstlerfest-2010-Stücke etwa von Jürg Wyttenbach, Michel Roth, Mathias Steinauer haben es nicht auf die Silberlinge geschafft. Wieso diese nicht, die anderen doch oder immerhin? Ein erstes Fragezeichen. Ein zweites: Wieso repräsentiert ausschliesslich das Schweizer Tonkünstlerfest 2010 die «Uraufführungen aus dem Jahre 2010», so der Untertitel und der Anspruch der «Grammont Sélection 4»? War sonst nichts Nennenswertes, Wichtiges, Herausragendes aus den Kantonen zu berichten? Könnte ja sein. Indes, man mag es nicht so richtig glauben. Ein drittes: Wieso wird gerade der Programmverantwortliche des Lucerne Festivals, eben Mark Sattler, mit der CD-Auswahl beauftragt? Das Tonkünstlerfest 2010 fand im Rahmen des Lucerne Festivals statt. Fehlende Distanz mischt sich hier womöglich mit Brisanz.


All das wäre der Annonce nicht wert, würde die «Sélection 4» unmissverständlich klar machen, dass es nicht um ausgewählte, bemerkenswerte Uraufführungen des Jahres 2010 in der Gesamtschweiz geht – wie bei den bisherigen «Sélections» –, sondern eben ausschliesslich und – das halte man sich vor Augen: bloss! – um die (Teil-) Dokumentation von Uraufführungen des Tonkünstlerfestes innerhalb des Lucerne Festivals. Das erfährt man erst bei der genauen Booklet-Lektüre. Auch erfährt man, dass sich der CD-Kompilator Mark Sattler, obgleich seit 1999 in exponierter Funktion in der Schweiz arbeitend, immer noch als ein der Schweizer Neue-Musik-Szene «Aussenstehender» begreift. Wäre dem so, hätte es der Anthologie eigentlich gut tun müssen. Der Aussenstehende bringt einen freien Blick mit, weil er eben kein Innenstehender ist, offen für alles. Aber offen ist die «Sélection 4» gerade nicht. Und egal wie erlesen die auf ihr gespeicherten Werke sind oder wie belanglos, es ist nicht nur vermessen, eine einzige Veranstaltung unter realiter sehr vielen aus einem einzigen Jahr zum Repräsentanten, zum Nonplusultra einer ganzen Nation zu küren; vielmehr ist es völlig unangemessen, deutbar als vordemokratisches Signal. Klar: Irgendjemand muss aus irgendetwas etwas auswählen. Entscheidungen sind stets zu treffen. Sie sind nahezu nie über jeden Zweifel erhaben. Aber diesmal, bei der «Sélection 4», ist ein solcher mehr als evident. Macht ein solches Modell Schule, dann ist es mit der vielbeschworenen Vielfalt, auch Sattler beschwört sie im Booklettext, bald vorbei. Dann reicht ja ein Festival im Lande – ein Fest im Fest mag es übergangsweise noch geben –, vielleicht genügt demnächst auch ein Ensemble, mithin gar ein einzelner Komponist oder eine einzelne Tonkünstlerin, so er oder sie mit polyglotter Écriture trumpfen kann. Zeitgenossen aller Kantone, seid wachsam, wenn ihr künftig nicht die Leidgenossen unter den Eidgenossen sein wollt.

 

 

Rezension des Tonkünstlerfests 2010 (Torsten Möller, dissonance 112, Dezember 2010)

 

Dieser Artikel erschien in dissonance 115, September 2011, S. 90–91. Die Ausgabe ist noch erhältlich und kann hier bestellt werden.

by moxi