Dissonance

Intellektuelle Ideen und andere Wahnvorstellungen

Kleine Reaktion auf das «Limburger Manifest» von Björn Gottstein (dissonance 114)

Peter Cadisch
«Wenn wir der neuen Musik für Eines danken dürfen, dann für ihre Sachlichkeit.»
Björn Gottstein

Wer den Intellekt als einzig gültige Wahrnehmungsmöglichkeit propagiert, fördert meiner Meinung nach die Neurotisierung der Kunst. Wer nur dem Objekthören (der Sachlichkeit) verhaftet bleibt, muss sich mit der Oberfläche des Materials begnügen und sollte vielleicht besser ein anderes Material wählen als die Musik. Eine Sprache wie die folgende wirkt hochtrabend und realitätsfremd: «Die erhabene Geste eines sich nach oben hin ausdünnenden Klanges [...] ist abgedroschen und platt, das rhythmische Glissando eines sich öffnenden und wieder schliessenden Filters ist eine Zumutung für die Intelligenz des Hörers [...] Die düstere Wucht des Basses ist peinlich. Die sublime Weite des elektronischen Diskants lächerlich.» (Björn Gottstein, Die sieben Todsünden der elektronischen Musik. Limburger Manifest, in: dissonance 114, Juni 2011, S. 5)

 

György Ligeti sagt in den Gesammelten Schriften (hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott 2007, Band 2, S. 78): «Das Material, mit welchem ein Komponist arbeitet, ist eigentlich eine sekundäre Sache; wesentlich ist, was daraus gemacht wird und wie damit gearbeitet wird.» Oder auf S. 69: «Das musikalische Material an sich ist aber nicht entscheidend. Ist das Material in Bachs Wohltemperiertem Klavier das Primäre? Nein, die geistige Schicht, die dahintersteckt, ist wesentlicher [...] Es gibt keine objektiven inhärenten Materialkriterien [Hervorhebung durch PC].» Gottstein wiederum dekretiert: «Die wichtigste Lektion der Moderne aber hat er nicht gelernt: die kritische Distanz.» Musik hat nun einmal die Eigenschaft, dass sie keine Distanz zulässt. Jede künstliche (intellektuelle) Distanz, die errichtet wird, ist nur eine vermeintliche, denn die Schwingungen der Musik führen sogar beim Hören mit Kopfhörer in den ganzen Menschen hinein. Beim Wahrnehmen von Musik im Konzertsaal ist sogar noch der Körper beteiligt. Die vermeintliche Distanz zur Musik ist nichts anderes als das Vakuum, das entsteht, wenn man alle anderen Wahrnehmungsmöglichkeiten ausschliesst. Wird dieses Vakuum nicht mit den entsprechenden Wahrnehmungsebenen ausgefüllt, so muss es in seiner Leere aufrecht erhalten werden durch sogenannt intellektuelle Theorien, Schulen und Ideologien. Da nun alle diese Theorien die vielfältigen Wahrnehmungsmöglichkeiten des Subjektes nie befriedigen können, kompensiert Gottstein sein Unbefriedigtsein durch ein autoritäres Machtwort und das Herabsetzen von Allem, was seinem vorgegebenen Primat widerspricht.

 

Kunst und Musik sollen berühren, sollen den Menschen in seiner Ganzheit (die ja nie ausgeschöpft und nie bis in die hintersten Winkel ausgeleuchtet werden kann) erreichen. Wenn sich Kunst und Musik intellektuellen Ideen oder anderen Wahnvorstellungen unterordnen müssen, werden sie neurotisch – das Publikum ebenfalls. Deshalb trägt Kunst immer einen Anteil an Kritik in sich, sozusagen als Selbstschutz. Kritik ist ein Grundbaustein der Kunst. Keine Gesellschaft, auch nicht die heutige Konsumgesellschaft, kann je so perfekt sein, dass sie ohne Kritik auskommt. Vielleicht sollte sich der Verfasser der Sieben Todsünden seine letzten Zeilen: «Lassen wir den Kitsch, das Pathos und die Technik hinter uns [Was soll das nun wieder heissen, was hat Technik mit Kitsch zu tun und warum sollen wir das hinter uns lassen?] und fangen wir an, uns eine Welt aus Tönen zu bauen, in der wir würden leben wollen. [Warum gibt es diese Welt nicht bereits?]» selber zu Herzen nehmen und einen kritischen Text verfassen, den wir lesen wollen und der zu ernsthafter Auseinandersetzung mit Musik und Kunst einlädt, ohne in der Art mittelalterlicher Prediger zu moralisieren.

 

Erwiderung von Björn Gottstein

Vielen Dank für Ihre kritische Replik auf meinen Text über die Sieben Todsünden der elektronischen Musik. Grundsätzlich begrüsse ich jede Form der Kritik, und ich habe Ihre Ausführungen mit Interesse gelesen. Ich möchte Sie allerdings auf zwei  Punkte aufmerksam machen: Zum einen befürchte ich, dass die Ablehnung einer intellektuellen Auseinandersetzung mit Musik  einer Ablehnung des Sprechens über Musik insgesamt gleichkommt. Der musikästhetische Diskurs ist ein wichtiger Teil der  Musik selbst, und wir vergewissern uns unserer musikalischen Erfahrung, indem wir darüber reden und schreiben. Dabei wird  selbstredend auch abstrahiert und theoretisiert, ohne dass die körperliche Wahrnehmung von Musik dadurch an Relevanz  verliert. Es ist notwendig, Kriterien zu formulieren, anhand derer wir Musik kategorisieren und mit einander vergleichen können.  Oder schätzen Sie jede Musik in gleichem Masse, da ja jeder Klang eine sinnliche Erfahrung mit sich bringt? Gerade im Bereich  der elektronischen Musik ist ein kritisch-ästhetischer Diskurs lange vermieden worden. Ich wollte zu einer kritischen Auseinandersetzung mit elektronischer Musik anregen. Das bringt mich zum zweiten Punkt: Sie werfen mir vor, «in der Art  mittelalterlicher Prediger zu moralisieren». Ich muss gestehen, dass mich diese Einschätzung, angesichts des eindeutig  polemischen und bisweilen überspitzen Textes, überrascht und befremdet. Die Anspielungen auf Topoi der religiösen Rhetorik  derart misszuverstehen, grenzt meines Erachtens an Mutwilligkeit. 


by moxi