Dissonance

Quasi un attraversamento

Saxophonmehrklänge in Kunst und Forschung von Giorgio Netti,
Marcus Weiss und Georg Friedrich Haas


Michael Kunkel
Peer reviewedDieser Artikel entstand im Rahmen eines Forschungsprojektes der Musikhochschule Basel

«Klingt wie Dracula!»
Bruno Maderna

Diesen Ausruf soll Bruno Maderna angesichts von Jacques Wildbergers Oboenkonzert (1963) ausgestossen haben, das mit einem ganz zarten Mehrklang des Soloinstruments beginnt. «Wenn ich Bartolozzi treffe, mache ich: so!», fügte er noch hinzu und würgte die Luft.1 Die kleine Szene stammt aus einer Zeit, als neue Instrumentaleffekte noch spezifische Wirkungen hervorzurufen vermochten und auch als so etwas wie Markenzeichen des musikalisch Neuen gehandelt werden konnten. Aufschlussreich ist, dass ausgerechnet der keineswegs rückwärtsgewandte Maderna, der einen guten Teil der damals allerneusten Musik höchstpersönlich aus der Taufe gehoben hatte, diese Entwicklung offensichtlich ein bisschen beargwöhnte. Es ist wohl die Skepsis einer Persönlichkeit, die Interesse an musikalischer Aktualität eher aus überzeitlicher Perspektive aufbringt. Das blosse Faktum der «Neuheit» eines Klangs ist für ihn noch keine wirklich substantielle ästhetische Errungenschaft. Wir sollten nicht vergessen, dass es nicht allein reflektiert-dialektische, aufklärerische Arten des Umgangs mit neuen Klängen à la Kagel, Globokar, Holliger oder Lachenmann gab, bei denen der schulmässige Gebrauch der Instrumente oft negativ mitgedacht wurde oder die vom physischen Klangerzeugungsaufwand kündeten, was mithin zu gravierenden Veränderungen im musikalischen Handeln und Denken führte. Die Kehrseite des Aufbruchs und der Entdeckung neuer instrumentaltechnischer Möglichkeiten war eine Menge spektakulärexotischer musikalischer Kurzwaren. Dagegen setzte übrigens Wildberger in seiner Komposition die damals neu entdeckten Spiel- und Klangmöglichkeiten in grosser Diskretion oder Sensibilität ein, und Bruno Bartolozzis epochales Werk Neue Klänge für Holzblasinstrumente hat eigentlich nicht ausschliesslich zu Missbrauch Anlass gegeben. Madernas Verdruss zeigt, dass der gute alte musikalische Fortschritt nicht ganz frei war von Widerhaken und Idiosynkrasien.

Die Situation hat sich mittlerweile etwas gewandelt. Gibt es heute überhaupt noch «neue» Instrumentaltechniken? Ist nicht schon längst alles entdeckt? Termini wie «erweiterte» oder «zeitgenössische» Spieltechnik sind heute anachronistisch. Denn welche Spieltechnik, liesse sich fragen, wäre nicht zeitgenössisch? Alles ist verfügbar: Der «ordinario» gespielte Ton (wenn es so etwas überhaupt gibt) ist in heutiger Komponier- und Spielpraxis (weniger in Hör- und Lehrpraxis) ebenso sehr oder wenig ein Spezialfall wie der tonlos gehauchte, unter Überdruck hervorgepresste, konvulsiv eingeatmete oder als Mehrklang sich entfaltende. Was bedeutet da «erweitert»? In Bezug worauf? Es ist ein Zeichen unserer Zeit, dass Klänge von sich aus sehr wenig bis nichts bedeuten und dass es Aufgabe der musikalischen Praxis ist, Konnotation und Konkretion zu leisten. Diese Aufgabe ist nicht immer leicht, denn das weite Feld besitzt unverkennbar präspezifischen Charakter. Die Situation leistet einem materialorientierten Denken und Handeln kaum mehr Vorschub. Der Künstler, der sich auf dieses Feld begibt, kann sich nicht mehr ohne weiteres darauf verlassen, dass Idiosynkrasien von sich aus greifen und als Leitwert figurieren. Aber wann konnte er das schon? Auch in diesem Bereich gilt es, angesichts von «Kriterienlosigkeit» ästhetische Widerstände nach wie vor erst zu finden und in der Kunst produktiv, das heisst: spezifisch zu machen (was freilich auch heissen kann, die Problematik des Unspezifischen zu spezifizieren).

Die Losigkeit unserer Tage wird von vielen als Bürde empfunden, und zugegeben: Die grosse Unbestimmtheit hat schon etwas Einschüchterndes. Fraglich ist natürlich, ob das Kunstschaffen vergangener Epochen im Abgelten von Bestimmtheiten sich wirklich erschöpfte (eine grosse Menge überlieferter unlangweiliger Kunst spricht eigentlich dagegen). Hinzu kommt, dass Künstler und Forscher heute wahrscheinlich nicht mit schwächerer Intensität arbeiten wie zu anderen Zeiten (auch wenn der Legitimationsdruck in letzter Zeit nicht gerade geringer geworden ist). Allerdings haben sich die Arbeitsfelder oder Fragestellungen verändert, zum Beispiel hinsichtlich der Frage des Instrumentaltechnischen in zeitgenössischer Musik: Schwerlich dürfte es heute gelingen, eine völlig neue Klangqualität zu entdecken und Publikum wie Fachwelt damit zu verblüffen; hingegen ist von grosser Aktualität, was mit dem riesigen, während Jahrzehnten wild angewachsenen Fundus an Klangmöglichkeiten zu beginnen ist, wenn man, wie heute, von der Emotionalität des Entdeckungsmoments wie von der dadurch bewirkten konnotativen Aufladung der entdeckten Klangphänomene etwas entlastet ist. Dass es durchaus noch Entdeckungen zu machen gibt, zeigt ein Projekt zu Saxophonmehrklängen der Hochschule für Musik Basel, in dem «Kunst» und «Forschung» schwerlich zu trennen sind: Die Exploration begann mit Musik, für deren Erfindung eine äusserst umfangreiche Rechercheleistung erforderlich war; aus ihr heraus erfolgte eine systematische Erfassung und praxisorientierte Darstellung von multiphonischen Saxophonklängen, die unterdessen ihrerseits wieder zum Gegenstand künstlerischer Arbeit geworden ist: Der in diesem Essay skizzierte Weg geht aus von Giorgio Nettis Komposition necessità d’interrogare il cielo. Ciclo per sax soprano solo (1996-99) und führt über das Forschungsprojekt Die Spieltechnik des Saxophons von Giorgio Netti und Marcus Weiss2 zur ersten kompositorischen Anwendung der Ergebnisse dieses Projekts im Konzert für Baritonsaxophon und Orchester (2008) von Georg Friedrich Haas. Das Projekt bietet ein Beispiel für eine fast bruchlose Bewegung von Kunst zu Forschung und wieder zurück.

 

On the Knife-Edge
«Das könnten wohl einzelne, zum Beispiel japanische Gaukler, die auf einer Leiter klettern, die nicht auf dem Boden aufliegt, sondern auf den emporgehaltenen Sohlen eines halb Liegenden, und die nicht an der Wand lehnt, sondern nur in die Luft hinaufgeht.»
Franz Kafka

© Pro Litteris

Neben der «Slap tongue» war längere Zeit die zumal draculahaft multiphonische Behandlung des Saxophons eine besonders emblematische Spielweise dieses Instruments in der Neuen Musik. Vielleicht ist es ein Zeichen des Misstrauens gegenüber heroischen, manchmal fast bis zum Fetischismus führenden Klangvorlieben vergangener Tage, dass just diese Techniken in der zeitgenössischen Musik immer seltener verlangt werden. Was bewegt nun einen Komponisten, heute (bzw. vor nicht allzu langer Zeit) ein über einstündiges Solostück für Sopransaxophon zu schreiben, das fast ausschliesslich aus Mehrklängen besteht?


Einen wichtigen Impuls zu seinem monumentalen Sopransaxophonzyklus necessità d’interrogare il cielo3 erhielt Giorgio Netti, als er im Sommer 1988 an den Darmstädter Internationalen Ferienkursen für Neue Musik den damals dort als Dozenten tätigen Saxophonisten Marcus Weiss kennen lernte. Dafür, dass dieses Zusammentreffen ein folgenreiches Initiationsereignis sein mochte, gab es kaum äussere Anzeichen: Netti hörte Weiss scheinbar beiläufig ein bisschen beim Üben zu und präsentierte acht Jahre später den ersten Teil des Zyklus mit dem Titel ... intuire la dispiegata forma della luce ... [... die entfaltete Form des Lichts erraten ...]. Wenig später entstanden die weiteren drei Teile des Zyklus (II: ... affretandosi verso il centro della luce risonante ... [... zum Zentrum des resonierenden Lichts eilend ...], III: ... silenzio dei padri ... [... Stille der Väter ...], IV: ... sottile veicolo dell’anima ... [... weiches Vehikel der 22 Seele ...]), und im Jahr 1999 wurde der insgesamt 67 Minuten dauernde Werkkomplex abgeschlossen und von Marcus Weiss im Juni 2002 in Graz uraufgeführt.

 

 

Die vollständige Version dieses Artikels ist in der DISSONANCE 110 erschienen.

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1 Madernas Reaktion, die sich um 1970 anlässlich einer von ihm geleiteten Aufführung des Werks ereignete, überlieferte Jacques Wildberger in einem Gespräch mit dem Autor im Jahr 2003 in Riehen. Maderna bezieht sich auf Bruno Bartolozzis damals einflussreiches Werk New Sounds for Woodwinds, London: Oxford University Press 1967, das als deutsche Übersetzung unter dem Titel Neue Klänge für Holzblasinstrumente 1971 im Mainzer Schott-Verlag erschienen ist. Also lag Maderna wohl falsch: Bartolozzi war kaum verantwortlich für die Verwendung von Mehrklängen in Wildbergers Komposition von 1963, vielmehr geht deren Gebrauch auf die Zusammenarbeit mit dem Solisten des Oboenkonzerts Heinz Holliger zurück, der bereits Ende der fünfziger Jahre damit begonnen hatte, für ihn schreibende Komponisten über neue Klangmöglichkeiten der Oboe zu informieren. Ein Manuskriptblatt, auf dem die wesentlichen Möglichkeiten zusammengefasst sind, findet sich in der Basler Paul Sacher Stiftung, Sammlung Heinz Holliger, und ist auch in der 1963 bei Ahn & Simrock erschienenen Ausgabe von Wildbergers Oboenkonzert reproduziert (der fragliche Mehrklang firmiert hier unter der Kategorie «Doppel-Flageolets»). Ein ähnliches Blatt kursiert unter Komponisten noch heute.
2 Giorgio Netti, Marcus Weiss, The Techniques of Saxophone Playing / Die Spieltechnik des Saxophons, Kassel: Bärenreiter 2010, mit Audio-CD.
3 Eine komplette Einspielung des Werks durch Marcus Weiss ist bei Durian Records erschienen (Durian 020-2); eine Interpretation des zweiten Teils ... affretandosi verso il centro della luce risonante ... durch den Saxophonisten Lars Mlekusch ist in der Edition Zeitklang erhältlich (ez-38040). Eine digitale Reproduktion der Partitur ist auf dieser Webseite zugänglich sowie auf www.musikforschungbasel.ch und http://www.giorgionetti.com
4 Marcus Weiss spricht gerne von «Ansatzchoreographie».
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by moxi