Dissonance

Annette Schmucki: arbeiten/verlieren. die wörter; fünfstimmig hüpfende; und durch. figuren. unter ruhe/punkten; arbeiten/verlieren. die stimmen

Ensemble ascolta; Eva Nievergelt (Stimme); Christoph Brunner (grosse Trommel); Neue Vocalsolisten, Titus Engel (Leitung)
Musiques Suisses/Grammont Portrait MGB CTS-M 122

Christoph Haffter

 

Annette Schmucki Grammont Portrait Cover

 

Was geschieht mit Sprache, wenn sie nicht gesprochen oder geschrieben, nicht gelehrt oder erlernt, sondern komponiert und interpretiert wird? Aus welchen Teilen setzt sie sich zusammen? Wie bedeutet sie? Was wird interpretiert, Noten- oder Sprachtext? Annette Schmucki beschäftigt sich mit diesen Fragen ohne den Anspruch, letzte Antworten zu liefern. Im Titel ihrer Oper arbeiten/verlieren widerspiegelt sich diese Haltung – nicht das Resultat der musikalischen Arbeit an der Sprache, sondern ihr Vollzug stehen im Vordergrund. In der Reihe Grammont Portrait ist eine Aufnahme erschienen, die Gesangs- und Perkussions-Soli dieser Oper sowie die Werke arbeiten/verlieren. die wörter für sieben Instrumente (Ensemble ascolta) und arbeiten/verlieren. die stimmen für sieben Instrumente und fünf Stimmen (Neue Vocalsolisten) umfasst.

 

Schmucki komponiert mit Sprache, indem sie Worte oder Wortteile dekontextualisiert. «Mein Wunsch ist, dass zum Schluss nur das nackte Wort übrig bleibt, um dahinter eine Art andere Sinnlichkeit zu entdecken. Dass da so viel Eigenes ist, was nicht schon präformiert ist, was nicht schon draufgeklatscht wurde, von diesen Jahrtausenden der Sprachentwicklung.» Schmuckis Werke sind bar jeglicher Syntax. In arbeiten/verlieren. die wörter werden inmitten des Stücks vereinzelte Worte aufgesagt, ohne dass sich aus ihnen sinnvolle Sätze ergeben würden. Der Hörer wird durch Alliterationen, hervorgehobene Silbenrhythmen und den unemphatischen Vortrag auf die Klanggestalt der Sprache aufmerksam – der herkömmliche Wortsinn verliert sich zunehmend. Auf instrumentaler Ebene geschieht das genaue Gegenteil: Von Beginn an bilden ein einfacher, absteigend chromatischer Tonhöhenverlauf und ein regelmässiger Sechzehntelpuls das Muster, welches das ganze Werk bestimmt. Dieser sich wiederholende Refrain wird immer wieder leicht variiert, neu instrumentiert, durch andere Motive ergänzt oder ersetzt, sodass der Hörer sofort in ein differenziertes Netz von Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, Entwicklungen und Anspielungen Eingang findet. Wiederholung ermöglicht Bedeutung – die différance von Zeichen und Bezeichnetem nimmt ihren Anfang. Der blosse Klang steht nicht mehr für sich allein, sondern für einen Ort in einem Beziehungsnetz von Klängen; während die Worte auf ihre Klanglichkeit reduziert werden.

 

Doch ist diese Reduktion möglich? Kann die Sprache – wie es Schmucki formuliert – vom Ballast ihrer Bedeutung befreit werden? Gibt es ein «Eigenes» der Worte jenseits der Sprachgeschichte? Anders gefragt: Führt die Dekontextualisierung von Worten zu einem Verlust oder nicht viel eher zu einem Gewinn an Bedeutung? Das Problem liegt hier: Je reicher die Wortbedeutungen, desto mehrdeutiger das Wort. Wenn Schmucki die Worte oder Phoneme dekontextualisiert, entledigt sie die Ausdrücke keineswegs der Bedeutung, sondern sie reichert ihren Sinn auf Kosten der Eindeutigkeit an. Schmucki zerstört die Syntax, um der Sprache ihre semantische Fülle wiederzugeben – sie de-kon-struiert. In arbeiten/verlieren. die stimmen, das auf demselben musikalischen und sprachlichen Material basiert, treibt Schmucki ihr Verfahren noch weiter: Die Wörter stehen hier nur zu Beginn vereinzelt, bald bilden sie neue, fremde Kontexte, die von assoziativen Verbindungen à la Joyce bis zu unverständlichen Wortklumpen verschiedenste Stufen der Verständlichkeit aufzeigen. Zudem exponiert sie gewisse Sprachkonstellationen, indem sie den Fortgang des sich wiederholenden Refrains immer wieder durch Pausen, kurze Loops, Wortballungen und andere Auffälligkeiten unterbricht.

 

Das Stimmsolo fünfstimmig hüpfende präsentiert neben der beeindruckenden Virtuosität der Singstimme (Eva Nievergelt) einen weiteren Aspekt der Beziehung von Musik und Sprache: Die Performanz. Die Stimme liest eine Wortliste, indem sie innerhalb der Worte ständig zwischen verschiedenen Formen der Verlautbarung hin und her springt: Sie singt, spricht, haucht, flüstert, hechelt. Gleichzeitig verändert die Sängerin stets den Gestus: Vom emphatischen  Gedichtsvortrag über gleichgültigen Singsang bis zu Beatboxing und Slampoetry. Mindestens drei Ebenen der Bedeutungsproduktion konkurrieren: Die dekonstruierten Sprachteile, die musikalische Verteilung der Phoneme auf verschiedene Äusserungsformen und, als neues Element, der imitierte Sprechakt, der eine ganze Welt individueller wie geschichtlicher Verweise ins Werk bringt.

 

Dieser Artikel erschien in DISSONANCE 112, Dezember 2010, S. 91-92.

by moxi