Die Kritik an der Indifferenz setzt kein neues Gebot
Erwiderung auf Roland Mosers Diskussionsbeitrag ... wenn sich dieses Diskussionsfeld wieder öffnen liesse ... (dissonance 106)
«Gebote und Verbote» in der Neuen Musik werden nicht von geltungssüchtigen Komponisten erlassen, sondern sind das Resultat vielfältiger, diskontinuierlicher Kommunikationen der Künstler, Kunsttheoretiker, der Medien, der Kunst (Werke, Texte, Repliken, Kritiken, etc.). Foucault: «Während die Herkunft die Qualität eines Instinktes, seine Stärke oder Schwäche und seine Spuren im Leib bezeichnet, gibt die Entstehung den Ort einer Konfrontation an; doch sollte man sich hüten [...] ihn als geschlossenes Feld vorzustellen, auf dem sich ein Kampf zwischen Gleichen abspielt; es handelt sich vielmehr um einen ‹Nicht-Ort›, eine blosse Distanz, die den Gegnern keinen gemeinsamen Platz einräumt. Niemand ist verantwortlich für eine Entstehung, niemand kann sich ihrer rühmen; sie geschieht in einem leeren Zwischen.» (Michel Foucault, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: Walter Seitter (Hrsg.), Von der Subversion des Wissens. Michel Foucault, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1987, S.77.) Das Verbot ist keine musiktheoretische, sondern eine musiksoziologische Kategorie. Insofern wäre die Kritik an meinem Text eine Art Kategorienfehler, den ich in aller Kürze aufklären möchte.
Ich habe mich aus Platzgründen darauf beschränkt, von «Geboten und Verboten» zu sprechen, und nicht ihr Entstehen zu beschreiben, zumal dies schon oft gemacht wurde. Die Beispiele in Mosers Replik veranschaulichen dies: «Als Cage im Sommer 1958 nach Darmstadt kam, verflogen vielleicht noch einige letzte Reste von Verboten und Geboten. In den sechziger Jahren war Öffnung wohl das einzige Gebot.» Von «Öffnung» kann jedoch nur sinnvoll die Rede sein, weil die kompositorische Gegenwart damals von stilbildenden Verboten durchzogen war: Eine geschlossene Tür lässt sich öffnen, die offene bietet keinen Raum für deren Öffnung.
Auch das Notenbeispiel von Madernas Zweiter Serenade setzt zum Verständnis implizit Gebote und Verbote voraus. «Bis zum 158. Takt des Stücks werden nur elf Tonnamen gebraucht, dem ‹gebotenen› chromatischen Total fehlt immer das B.» Wenn das chromatische Total damals nicht ungeschriebenes Gebot gewesen wäre, würde ein kompositorisches Verfahren, welches aus nur elf statt zwölf Tönen wählt, sinnlos sein.
Die verschiedenen Reaktionsweisen der Komponisten auf die «Gebote und Verbote» waren keinesfalls geregelt, jedoch in ihrer Möglichkeit beschränkt, da sie stets auf sie Bezug nahmen. Dass Verbote existieren, dass sie sich nicht auf die subjektive Hybris von Komponisten reduzieren lassen, sondern einen objektiven Grund haben, hatte schon Adorno so gesehen: «Im Kanon der Verbote schlagen Idiosynkrasien der Künstler sich nieder, aber sie wiederum sind objektiv verpflichtend, darin ist ästhetisch das Besondere buchstäblich das Allgemeine. Denn das idiosynkratische, zunächst bewusstlose und kaum theoretisch sich selbst transparente Verhalten ist Sediment kollektiver Reaktionsweisen.» (Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 60)
Heute sind «Dogmen», oder aber: «Gebote und Verbote», überwunden. Diese durchaus begrüssenswerte Errungenschaft ersuche ich keinesfalls durch den Ausruf neuer «Gebote und Verbote» rückgängig zu machen. «An der Errungenschaft des Pluralismus wird festgehalten», hatte ich ausdrücklich geschrieben. Vielmehr plädiere ich dafür, der Komplexität des Pluralismus reflexiv gerecht zu werden. «Sie [die Kunst] bestimmt sich im Verhältnis zu dem, was sie nicht ist.» (Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 12) Kunst heute aber ist alles; daher bleibt sie unbestimmt. Mir geht es darum, die Unbestimmtheit der Kunst (genauer: der zeitgenössischen Musik) unserer Tage zu kritisieren, nicht jedoch durch neue Dogmen.
Der zweite Teil meines Textes (Kritik) macht diesbezüglich Vorschläge. Die am Schluss des Textes kurz angerissene Kritik zu Detlev Müller-Siemens Werk lost traces argumentiert mit der Prämisse, dass es «Gebote und Verbote» gab. Bereits im Titel des Werkes wird angedeutet, dass das Werk um die Probleme des Pluralismus kreist, insofern aus meiner Sicht aktuell kritisch ist. Die Art Kritik, welche ich vorschlage, hat ihren Fokus im kritischen Weltgehalt des Werkes, genauer: der kritischen Position, welches es im Spiegel unserer Zeit des Alles-Inkludierenden einnimmt: Kritik des Unbestimmten.
Aber diese Kritik an der Indifferenz setzt kein neues Gebot: Das Rad der Zeit lässt sich weder aus wehmütigen, noch aus praktischen Gründen zurückdrehen. Sich dennoch kritisch mit den Nachteilen der scheinbaren Freiheit auseinanderzusetzen, erachte ich als nötig und wünsche mir daher nicht nur den musiktheoretischen, sondern ebenso den musiksoziologischen Diskurs.