Dissonance

Entfesselter Gesang

Spuren des Melodischen in der elektronischen Musik von Luigi Nono

Germán Toro Pérez

 

Das Staunen über ein Gesamtwerk, das sich über vier Jahrzehnte konsequent weiterzuentwickeln scheint und für das die Verwendung von elektroakustischen Mitteln in sehr unterschiedlichen Formen wesentlich ist, lieferte die Motivation für ein Seminar über die elektronische Musik von Luigi Nono, das 2009/10 an der Zürcher Hochschule der Künste  mit Studierenden der elektroakustischen Komposition stattfand. Die Hauptintention des Seminars war, die Entwicklung Nonos zu verfolgen und sie als Ganzes zu betrachten. Der  retrospektive Blick sollte die kritischen Momente einer kompositorischen Entwicklung erklären, die sich als Prozess der Erneuerung, als ständiges Überwinden von  Voraussetzungen zeigt und die sich deshalb als Metapher für das Komponieren selbst eignet. Das anhand einzelner Bestandesaufnahmen chronologisch betrachtete OEuvre  sollte als ein komplexes Ganzes erlebbar werden, wie ein Werk, das vom Zuhörer linear abgetastet wird – wobei Prometeo als Fluchtpunkt der Betrachtungen diente. Die  Perspektive auf das Ganze sollte Mechanismen von Wahrnehmung und Erinnerung aktivieren und sie für übergeordnete Zusammenhänge sensibilisieren. Das Hören über  einzelne Werke hinaus sollte einerseits als Kategorie des Hörens, andererseits als kompositorische Haltung thematisiert werden. Nicht nur zur utopischen Auffassung des  Menschen im Allgemeinen, sondern auch zur Spiegelung von Nonos Werdegang als Komponist wird so das Bild des Wanderers, das in Prometeo gezeichnet ist.

 

Ist eine aus dem  Staunen heraus postulierte Konsequenz in der kompositorischen Entwicklung Nonos tatsächlich vorhanden, so müsste sie anhand eines Fadens sichtbar gemacht werden  können, der trotz der verschiedenen Manifestationen des Musikalischen die innere Kohärenz des Gesamtwerkes gewährleistet. Ein solcher Faden, und das ist das Postulat dieses Textes, ist der «Gestus des Gesangs».

GESTUS DES GESANGS

Mit der Epoche der Moderne schliesst sich in der Musik ein Prozess ab, der zur Autonomie der Instrumentalmusik und schliesslich des Klanges führte und dadurch das Ende der Vorherrschaft der Vokalmusik im Bereich der Kunstmusik markiert. Dahinter steckt nicht nur eine Verschiebung von Gattungen, sondern eine viel grundlegendere Wandlung. Für die Musikauffassung, die hier als «historische Vokalmusik» bezeichnet wird, war die Sprache der eigentliche Referent. Das Wort als Ursprung und Mittel der christlichen  Weltvorstellung lieferte dafür die Grundlage: Für den Primat des Ausdrucks und der Aussage in der Musik und die Sonderstellung der Melo- die als dessen Konsequenz. Anders in  der Moderne, die den Klang als akustisches Phänomen und als Abbild der Welt zum neuen Referenten machte. Dabei ist nicht der Ausdruck, sondern die Möglichkeit der  Erfahrung seine wichtigste Bestimmung. Damit einher geht ein Perspektivenwechsel vom Kunstschaffenden zum Rezipienten und eine Transformation des Werks vom erhabenen Objekt zum Erfahrungsraum.

 

Nonos Prometeo. Tragedia dell’ascolto (1981–84, rev. 1985) kann durchaus als ein Werk in diesem neuen Sinne gesehen werden, aber trotzdem würde das Werk ohne Text,  Stimme und Gesang seine Grundsubstanz vermissen. Man muss es daher auch in Verbindung zu jener historischen Musikauffassung, der Vokalmusik, hören und deuten. Fast alle wichtigen Werke verschiedener Schaffensperioden Nonos – wie Il canto sospeso (1955–56), Intolleranza 1960 (1960–61), Al gran sole carico d’amore (1972–74, rev. 1977) und eben Prometeo – sind von vokalen Elementen geprägt. Auch Nonos elektronische Musik – sowohl frühe Stücke wie La fabbrica illuminata (1964) und Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz (1966) als auch spätere Werke wie Das atmende Klarsein (1980–81, rev. 1983), Io, frammento dal Prometeo (1981), Quando stanno morendo (1982) und  Omaggio a György Kurtág (1983, rev. 1986) – können durchaus als «elektronische Vokalmusik» bezeichnet werden. Der Gestus des Gesangs prägt aber auch Nonos Instrumentalwerke, am deutlichsten das Streichquartett Fragmente – Stille. An Diotima (1979–80).1 Am Umgang mit der Stimme lässt sich die über vierzig Jahre andauernde kompositorische Entwicklung Nonos besonders klar verfolgen. Die allzu reflexartig als politisch bezeichnete Musikauffassung kann entlang dieser Linie hinterfragt werden.

 

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Lesen Sie den vollständigen Artikel in DISSONANCE 114 (Juni 2011).

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