Ist die freie Improvisation am Ende?
Zur Vergangenheit und Gegenwart einer flüchtigen Kunstform in der Schweiz
Kürzlich – am 22. Juni 2010 – hatte sich in der WiM, der Werkstatt für improvisierte Musik in Zürich, ein Septett angekündigt: die beiden Bassisten Peter K Frey und Daniel Studer, der Klarinettist Hans Koch, der Gitarrist Michael Seigner, der Pianist Jacques Demierre, der Cellist Alfred Zimmerlin und der Geiger Harald Kimmig. Und es wurde ein denkwürdiger Anlass (wobei ich das Wort «denkwürdig» doppelt unterstreiche, weil mangels Aufnahme nur diese Denkwürdigkeit in den Köpfen aller Anwesenden übrig bleibt): Improvisierte Musik aus der Schweiz auf höchstem Niveau, abwechslungsreich und konsequent musiziert, jederzeit im Fluss und in der Aufmerksamkeit, spannend bis zum letzten, zum Geräuschhaften tendierend, vorausschauend, Anklänge vermeidend, strukturiert. Kurz: freie Improvisation auf hohem, beängstigend hohem Niveau, denn wer will ihnen das nachmachen, in einer so grossen Besetzung und nicht in der diesbezüglich «bequemeren» Trioformation zum Beispiel.
Das mag wie die Lobrede eines Mittelalterlichen auf seine Generationskollegen klingen. Mag sein, dass da einige in die Jahre gekommen sind, mag sein, dass Musiker und Hörer da in einem Einklang sind, mag auch sein, dass da jemand ein Ende nahen sieht. Tatsächlich: diese frei improvisierte Musik, die irgendwann in den siebziger Jahren aus dem Free Jazz und den wie auch immer improvisatorischen, intuitiven, aleatorischen Tendenzen der Neuen Musik entstand, wirkt an diesem 22. Juni fast etabliert. Das war sie früher mitnichten: Die einen versuchten, den Puls aufzugeben, die anderen ihre kompositorischen Ansprüche. Frei sollte es sein, frei improvisiert ohne jede Absprache. Man kam zusammen, wechselte kein Wort über Musik, spielte zusammen, wechselte auch darüber kein Wort und ging wieder auseinander. Krud gesagt, aber das ist das eine Extrem. So dürfte es auch an diesem 22. Juni geschehen sein: wortlos. Das ist die hohe Kunst.
Die freie Improvisation ist eine Musik, die gleichsam überzeitlich ist, die ihr sofortiges Verfallsdatum zur kompositorischen Grundhaltung macht. Immer noch ist Spontaneität eines ihrer zentralen Charakteristika. Beim Jammen kam aber zuweilen die Gefahr auf, dass alle nur ihr Klangrepertoire mitbrachten, es abspielten und einigermassen zueinander in ein Spannungsverhältnis brachten. Das konnte zu grossartigen Ergebnissen führen, war aber für manche Musikerin, für manchen Musiker doch etwas unbefriedigend. Es bildeten sich feste Ensembles, Duos, Trios, manchmal auch grössere Gruppen: Working Bands, die gemeinsam improvisierten, oft über Jahre hinweg, wobei Anfang und Ende einer solchen Gruppe zuweilen nicht genau auszumachen waren. Die Zusammenarbeit begann irgendwann spontan aus Begeisterung und verebbte einfach, nicht aus bösem Willen oder schlechten Gefühlen, sondern eher aus mangelndem Einsatz oder Interesse, fehlenden Engagements, divergierenden Biographien. Bedeutende Trios wie nachtluft (mit Andres Bosshard [vgl. das Bosshard gewidmete Portrait in dissonance 72], Günter Müller und Jacques Widmer) oder adesso (mit Walter Fähndrich, Peter K Frey und Hansjürgen Wäldele) haben so ihren Weg klammheimlich beendet (Haben sie tatsächlich? Kommen solche Musiker zusammen, entsteht oft rasch wieder der Wunsch, etwas gemeinsam zu organisieren). Das ist nicht weiter schlimm, obwohl hier natürlich – gut von aussen beobachtbar – Entwicklungen und damit Geschichte(n) stattfanden.
Diese Improvisationsensembles sind insofern interessant, weil einige von ihnen, ohne den edanken der freien Improvisation zu verraten, allmählich ihr Tätigkeitsfeld ausweiteten. KARL ein KARL (Peter K Frey, Michel Seigner, Alfred Zimmerlin) zum Beispiel bezeichnet sich zu Recht auch als Komponistenkollektiv. Stücke wie die 24-Stunden-Komposition/Improvisation Nine to Nine gehören ...
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