Dissonance

Sonderwege

Urs Peter Schneider im Portrait

Torsten Möller
 
Biographische Angaben und Werkverzeichnis: www.musinfo.ch
Angaben zu Werkeditionen: www.aart-verlag.ch

 

Bern, in den sechziger Jahren: Die zeitgenössische Kunst floriert. Harald Szeeman leitet seit 1961 die Kunsthalle Bern, präsentiert unter anderem Werke von Geisteskranken und initiiert so den Diskurs um eine Art Brut. 1968 lässt der Kurator Szeemann die Kunsthalle verpacken, von Christo und Jeanne-Claude. Über die Landesgrenzen hinweg macht er Furore, zeigt Werke von Joseph Beuys, Richard Serra oder Bruce Nauman und betont nicht nur das vollendete Werk, sondern – wie es im Untertitel der Ausstellung Live In Your Head: When Attitudes Become Form heisst – auch Konzepte – Prozesse – Situationen – Information. Um die wie stets verspätete Musik ist es in Bern nicht annähernd so progressiv bestellt. Es gibt Privatinitiativen wie die Konzerte im Haus Irène Gattikers,1 der Witwe des Musikkritikers und Künstlers Hermann Gattiker, will aber ein Berner in den sechziger Jahren Werke der Avantgarde hören, so muss er sich aufmachen nach Donaueschingen, Darmstadt oder Köln.

 

Urs PEter Schneider

Standbild aus Urs Grafs Film «Urs Peter Schneider: 36 Existenzen». © Urs Graf / Filmkollektiv Zürich

Urs Peter Schneider, 1939 in Bern geboren, begibt sich nach seinen Studien in Bern bei Walter Lang (Klavier) und Sándor Veress (Komposition) schon in den sechziger Jahren des öfteren nach Deutschland.2 Eine Zeit lang studiert er bei Karlheinz Stockhausen, Henri Pousseur und Frederic Rzewski in Köln. Dort lernt er auch John Cages Konzepte kennen, die ihm, dem stets konzeptuell Denkenden3, sogleich und schlagartig neue Territorien eröffnen. Mauricio Kagels humoreskes «Instrumentales Theater» und dessen unorthodoxe Notationsweisen stossen ebenfalls auf Gegenliebe, wie die Raritäten für Interpreten (1959-71/rev. 1983) offensichtlich machen. Aus 91 Seiten bestehen sie, versammelt sind da graphische Partituren, Textpartituren, blosse Zeichnungen, Listen von Namen, Daten und Sachen. «Missachte jegliche Anweisung» steht auf einem Blatt geschrieben, ein anderes stellt eine Violine dar, von elf Händen in jeder nur erdenklichen Weise traktiert. Dann wiederum posieren, schön und fein gezeichnet, 32 Blonde und Schwarzhaarige auf Notenlinien, die mit darüber stehenden Adjektiven wie «lieblich» oder «grimmlich» näher charakterisiert werden und deren Scham den Notenköpfen eines Chorals entspricht. All die enigmatischen Zeichnungen, Zeichen, Kommentare und Noten bedürfen einer weniger texttreuen als phantasievollen Lesart, und es ist klar, dass sie dem 1968 von Schneider ins Leben gerufenen und für die Schweizer Musikgeschichte enorm verdienten Ensemble Neue Horizonte Bern auf den Leib geschrieben sind4: «Sogleich nach der Fertigstellung einzelner Entwürfe [zu den Raritäten] machte sich das Ensemble Neue Horizonte Bern in seinem nimmersatten Drang nach Entfaltung daran, so etwas wie aufgrund der gar nicht partiturseinwollenden Seiten schief laufende Konzerte zu realisieren. Aber erst durch die inspirierenden, den Ausbruch aus biederbernischem Theaterspiel vollends signalisierenden Interventionen des Norbert Klassen, dem das Ganze gewidmet wurde, gelang bisweilen ein von Regie und Ästhetik freies musikalisches und theatralisches Tun.» Zwischen scheinbar absichtslos gespielten Flöten- oder Klaviertönen, einer hektisch Zahlen deklamierenden Frauenstimme oder platzenden Papiertüten erzählt Klassen an der Uraufführung – sich sukzessive den Mund mit einer riesigen Karotte füllend – die Geschichte von Trude. Trude kommt nach der Schule nach Hause, muss die Treppe rauf, Schuhe putzen. Später wird es mitunter asemantischer und aktionsreicher. Der Witz des tatsächlich «freien» Tuns transportiert sich theatral: optisch und akustisch.

 

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Die vollständige Version dieses Interviews ist in der DISSONANCE 112 erschienen.

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1  Vgl. Doris Lanz, Neue Musik in alten Mauern. Die «Gattiker-Hausabende für zeitgenössische Musik». Eine Berner Konzertgeschichte 1940-1967, Bern: Peter Lang 2006.

2  Vgl. zur musikalischen Sozialisation des jungen Komponisten und Pianisten: Für das Neue auf der Welt. Interview mit Kjell Keller, in: dissonanz/dissonance 100, 2007, S. 48-53.

3  2005 legt Schneider eine 400-teilige Anthologie der Konzeptuellen Musik vor, die aus einem Forschungsprojekt der Hochschule der Künste Bern hervorging. Vgl. den komprimierten Bericht: Urs Peter Schneider, Konzeptuelle Musik. Eine kommentierte Anthologie, in: dissonanz/dissonance 90, 2005, S. 22-27.

4  Neben dem Ensemble Negativa war das Ensemble Neue Horizonte Ende der 1960er Jahre in der Schweiz allein auf weiter Flur. In seinen Programmen fanden sich Konzeptuelle Musik amerikanischer und britischer Provenienz (John Cage, Earl Brown, Frederic Rzewski, Cornelius Cardew, Christian Wolff, Morton Feldman), aber auch deutsche und vor allem Schweizer Komponisten, unter ihnen Hans Joachim Hespos, Rolf Riehm, Jürg Frey, Peter Streiff oder Roland Moser. Zwischen 1969 und 1978 realisierte das Ensemble nach einer Aufstellung Schneiders 345 Werke von Schweizer Komponistinnen und Komponisten. Vgl. u. a. die CD: Ensemble Neue Horizonte Bern, Historische Aufnahmen 1968-1998, Musiques suisses/Grammont Portrait, MGB CTS-M 76.

by moxi