Dissonance

Musik, Ästhetik, Digitalisierung. Eine Kontroverse

Johannes Kreidler, Harry Lehmann, Claus-Steffen Mahnkopf
Hofheim: Wolke-2010, 176 S.

Patrick Frank

 

2006, sechzig Jahre nach dem Erklingen des ersten Tonbandstückes, 15 Jahre nach der Verbreitung des Internets und fünf Jahre nach der Entwicklung des Web 2.0, schrieb Harry Lehmann, 45, Philosoph aus Berlin, den kurzen, aber provokativen Text Zur Digitalisierung der Neuen Musik – ein Gedankenexperiment. Digitalisierung der Neuen Musik? Digital ist sie doch schon längst! Was steht Neues in jenem Text, von dem sich Claus-Steffen Mahnkopf, 48, Komponist aus Freiburg, derart in Rage bringen lässt? Mahnkopfs Antwort auf Lehmanns Text fällt vernichtend aus. Man spürt, dass es um mehr als nur die Digitalisierung geht.

 

Johannes Kreidler, 30, Komponist und Konzeptkünstler aus Berlin, Verfechter eines radikalen Pluralismus, Liebhaber des Web 2.0, verteidigt Lehmanns Thesen leidenschaftlich und zieht gegen Mahnkopf in die Schlacht: Im Buch Musik, Ästhetik, Digitalisierung. Eine Kontroverse beschiessen sich Kreidler und Mahnkopf mit rhetorischen Giftpfeilen, manchmal überraschenden, manchmal altbackenen, nicht selten lehrmeisterlichen. Unfreiwilliger Humor hält Einzug. Vor allem aber werden dem Leser fundierte Einblicke in die Ästhetiken der Kontrahenten und Konkurrenten gewährt, wenn auch in einer Weise, die zeitweise die Frage provoziert, worum es hier eigentlich geht: Um Mahnkopf und Kreidler oder um Digitalisierung? Über das «Unmögliche» in der Musik, über «Musik mit Musik» oder über den digitalen Wandel in der Neuen Musik?

 

Es ist all dies und noch einiges mehr – das Buch ist dicht, teilweise sprunghaft und ausufernd in der Thematik. Verwundern mag das nicht, und Anlass zu Kritik ist dies ebenso wenig; es ist das Abbild einer Zeit, die mit den Folgeproblemen der Postmoderne zu kämpfen hat. Da  ringen zwei Komponisten um ihre Ästhetiken, mithin um strikte Materialfragen. Materialfragen?! Ja, richtig: Materialfragen! Zu Recht bemerkt Mahnkopf, dass Kreidlers Kompositionsideal Charakteristika einer für überwunden gehaltenen Fortschrittslogik trägt. Mit Recht moniert Mahnkopf, dass Kreidlers «Musik mit Musik» den klassischen Avantgardetechniken (ent)täuschend nahe steht, jedoch: Mahnkopf übersieht, dass im Zeitalter der Freiheit des Materials durchaus auch solche Vorgehensweisen rechtens sind. Alles ist rechtens. Das war bis anhin der Segen der (naiven, oder wie andere – unter anderem Kreidler – sagen würden: Widmann’schen) Postmoderne. Langsam (man darf ruhig anmerken: sehr langsam) bemerkt die Gemeinde, dass der Segen auch ein Fluch ist. Ein Fluch, der die reflexiven Komponisten wie Kreidler und Mahnkopf mit Wut erfüllt. Diese Wut setzt Aggressionen frei und verleitet Mahnkopf zu haarsträubender Polemik gegen Lehmann. Diese Wut setzt Aggressionen frei und verleitet Kreidler zu radikalen Forderungen und fehlgeleiteten Schlussfolgerungen («Wer für Geige schreibt, schreibt ab»). Die Kontroverse ist nur auf den ersten Blick eine zwischen Mahnkopf und Kreidler. Es ist die Wut derjenigen, welche – aus unterschiedlichsten Gründen – die naive Postmoderne satt haben. Wobei angemerkt werden darf, dass Mahnkopfs Wut vermutlich noch aus weiteren Quellen gespiesen wird.

 

Was aber sagt eigentlich Lehmann in dem Text, der zum Auslöser der Kontroverse wurde? Eher als von der Digitalisierung handelt Lehmanns These von der «Virtualisierung» der Neuen Musik. Lehmann beschreibt in einem Gedankenexperiment, was eintreten könnte, wenn verschiedene Bereiche der Neuen Musik – wie Partiturherstellung und Distribution, Kompositionshilfen à la «Soundshop», die Aufführung selbst – in die Virtualität getragen würden. Die Folge davon laut Lehmann: Die Autonomie der Komponisten würde steigen, da die Abhängigkeit von Institutionen, Verlagen und hilfreichen Kontakten schrumpfen würde; infolgedessen obsiege die Qualität und verdränge die auf Erfolg schielenden, strategisch vorgehenden Komponisten – ein Argument, das im Anschlusstext als «Theorie der Entinstitutionalisierung» weiter ausgearbeitet wird. Es ist dieselbe positive Wertung der Virtualität bzw. des virtuellen Durchschlages in die Realität, die von den Verfechtern des Google-Universums vertreten wird: Die Hoffnung, dass durch die Virtualität der Demokratisierungsprozess voranschreitet. Freilich ist dies keine unumstrittene These. Die Debatte um Googles «Street-View» zählt zu den Lieblingsthemen der Medien und kreist im Kern um dasselbe Problem.

 

Eines ist sicher: Mit der Virtualisierung der Neuen Musik werden die Karten neu gemischt. Lehmann hat in diesem Punkt in ein Wespennest gestochen: Die Virtualisierung der Neuen Musik mausert sich zur Machtfrage. Dass die Neue Musik, die in Agonie ihren heterogenen Ästhetiken entgegentritt, einen kräftigen Tritt in den Hintern benötigt, sei unbestritten. So gesehen sind Kreidlers spitzzüngige Forderungen erfrischender als die mahnkopfisch-altadornitische Verpflichtung, in der Musik das Unmögliche zu denken. Deklarierte Utopie (auf die der Begriff des «Unmöglichen» eigentlich abzielt) ist keine, auch wenn sie philosophisch durch Derrida gestützt wird.

 

Es bleibt zu hoffen, dass der Streit mit diesem Band nicht abgeschlossen, sondern lanciert wurde. Die Gemeinde braucht mehr von dieser hier  angestossenen Kontroverse!

 

Dieser Artikel erschien in DISSONANCE 112, Dezember 2010, S. 82.

by moxi