Dissonance

«... wenn sich dieses Diskussionsfeld wieder öffnen liesse ...»

Zu diversen Beiträgen der dissonance 105

 

Roland Moser

 

Gern würde ich mich an einer Öffnung des Diskussionsfeldes beteiligen, aber in welcher Sprache? Patrick Frank liebt die bestimmten Artikel («Die Avantgarde», «Das Material», «Die Theorie», «Die alte, lineare Kritik») und Einklagbares («Gebote», «Verbote»), «Die Avantgarde besass ...»: Es gibt offenbar nur eine solche Vorhut (um variierend in der militärischen Terminologie zu bleiben), oder genauer: es gab nur eine, eben «die», und sie «besass» etwas, das wir nicht mehr haben: Gebote und Verbote.

 

Wenn ich dieses Vorverständnis auf Reales hin öffnen möchte, muss ich versuchsweise von einer Vermutung ausgehen, denn auch die Fortsetzung in Franks Text bringt keine Gewissheit. So nehme ich mal an, es gehe um frühe fünfziger Jahre. Darmstadt? (Nicht New York? Nicht Paris?) Ein Name würde sich aufdrängen, mit Verbindungen zu allen drei Orten: Boulez? Aber mit wem hat er «ein relativ klar abgegrenztes Feld von Geboten und Verboten [...] gemeinschaftlich durch ästhetische und theoretische Diskurse definiert» (dissonance 105, S. 18)? Wo stehen sie? Wie lauten sie?

 

Boulez' persönliches Ideal war ein homogener, vollchromatisch weitgespannter Tonraum, ohne  vertraute Spuren, die auf Vergangenes verweisen, «an der Grenze des Fruchtlandes» gegessene Früchte hinter sich lassend. Deshalb mochte er Oktaven nicht, monierte er sogar Dreiklänge in Weberns Zweiter Kantate. (Mit dem Neuen Strawinsky, der ihn sehr lobte, war er etwas grosszügiger).

 

Stockhausen hat sich mit dergleichen gar nicht erst abgegeben. Er wollte Alles vermessen. Und nach jedem Werk war Alles noch Mehr. Allgemeine Gebote und Verbote wären da sicher hinderlich gewesen. Pierre Mariétan, der in den frühen Sechzigerjahren bei ihm gelernt hat, bringt es auf den Punkt: «En fait, qu'est-ce que la sérialité ? Pour moi c'est prendre tout en compte, faire l'abstraction de certains éléments pour un temps» (dissonance 105, S. 39). Redlicherweise sagt auch Mariétan hier «pour moi». Aber vielleicht wäre das doch ein «Gebot», auf das man sich «gemeinschaftlich» hätte einigen können? Dafür brauchten wir freilich heute «die Avantgarde» gar nicht erst zu «überwinden».

 

Von Nono besitzen wir nur einen kürzeren Aufsatz über Reihentechnik von 1958. Er schreibt – übereinstimmend mit Schönberg – lediglich von «Methoden». Gebote und Verbote finden wir auch hier nicht.

 

Maderna, den man leider oft übergeht, obschon er unter diesen grossen Komponisten wahrscheinlich – man verzeihe hier den bestimmten Artikel – der beste Musiker war, hat sich in seiner wundervollen Zweiten Serenade (1954/57) auf eine ebenso charmante wie hinterhältige Art über Boulez' Phobien und Vorlieben lustig gemacht. Bis zum 158. Takt des Stücks werden nur elf Tonnamen gebraucht,.dem «gebotenen» chromatischen Total fehlt immer das B. Diesem Negativum entspricht ab dem 46. Takt, beim ersten Einsatz des von Maderna so geliebten Vibraphons, ein lang nachklingender D-Dur-Akkord. Ein Positivum? Von Maderna besitzen wir nichts Schriftliches über Musiktheorie und -ästhetik. Ob man das in der Partitur Niedergelegte eine an Mozart erinnernde auskomponierte «Kritik» nennen dürfte oder bloss ein ironisches Aperçu? Wahrscheinlich hat niemand es bemerkt. Bei der Herstellung freilich dürfte sich dem Komponisten ein produktiver Widerstand ergeben haben von der Art, wie ihn Hans Wüthrich in seinem ganz besonders interessanten Statement «Widerstand als Kompositionshilfe» beschreibt.

 

Als Cage im Sommer 1958 nach Darmstadt kam, verflogen vielleicht noch einige letzte Reste von «Verboten und Geboten» (dissonance 105, S. 22f.). In den sechziger Jahren war Öffnung wohl das einzige Gebot. Nur ein Beispiel: Votre Faust von Henri Pousseur und Michel Butor (1960–67) mit harmonischen Netzstrukturen, in die sich fast bruchlos heterogenste «Materialien» integrieren liessen. Tonalität war gar kein Problem mehr. Während ich in Darmstadt Pousseur darüber referieren hörte, probte Stockhausen einige Häuser nebenan mit je zwölf Komponisten und Instrumentalisten Ensemble. Es gab überall Öffnungen, oft von rücksichtsloser Radikalität.

 

Als Widerstand dienten freilich nicht in erster Linie musiktheoretische und -ästhetische Gebote und Verbote, sondern (schon lange Zeit vor 1968) politische Auseinandersetzungen ausserhalb der für Musik reservierten Nischen, die damals nicht so zahlreich waren wie heute. Die in der Folge zunehmende Vermehrung und Pflege dieser Nischen (samt privater Mythologien) bescherte uns eine Art von Neo-Biedermeier, in dem selbstverständlich auch zahlreiche Theorien zu Technischem und Ästhetischem ihren Platz einnehmen. Sie vermögen noch viel weniger als musikalische Werke an dieser selbstgewählten Situation etwas zu ändern. Und ich denke, das sei auch gut so, wenn ich folgenden Satz lese: «Erst die pointierte theoretische Abgrenzung zu Avantgarde und Postmoderne durch aktualisierte Theorien verhindert das unterschwellige Weiterleben avantgardistischer und postmoderner Haltungen und Ideen.» (dissonance 105, S. 19)

 

Es ist ein Glück, dass Theorien zur Musik nichts zu verhindern vermögen. Ausbrüche aus dem Neo-Biedermeier sind von dieser Seite her kaum zu erwarten. Schon eher von einer weniger selbstreferenziellen Praxis. Ich kenne Schulmusiker, die im rauhen Wind ihres Arbeitsfeldes Erstaunliches leisten. Sie sind mit «Gesellschaft» wirklich konfrontiert. Vielleicht könnten wir versuchen, sie weniger allein zu lassen bei ihrer Arbeit, selbst neue Ideen auf ein Ziel hin entwickeln und dabei erst noch realen Stoff für «Gesellschaftskritik » erhalten.

 

Moritz Müllenbachs Forderung, Kunstschaffende sollten sich um die Kritisierbarkeit ihrer Arbeiten kümmern, finde ich – nachdem der erste Schreck über die Vorstellung von «Grossorganismen vom Charakter eines Ameisenvolkes» (dissonance 105, S. 25) abgeklungen ist – interessant und einladend für eine Diskussion. Ob man bereits beim Komponieren an öffentliche Kritisierbarkeit denken soll, möchte ich allerdings lieber bezweifeln. Da richtet sich der kritische Furor noch gegen einen selbst. Dass danach die Karten auf den Tisch gelegt werden – Messiaen und Stockhausen waren da, nicht ohne Eitelkeit, recht grosszügig –, ist eine Möglichkeit. Dankbar nimmt man dergleichen in den Analyse-Seminarien der Hochschulen zur Kenntnis; ob immer zum Vorteil weiterführender analytischer Ansätze, bleibe dahingestellt. Aber ein Werk darf auch so fremd daherkommen wie vor über fünfzig Jahren die Déserts von Varèse, rätselhaft glühend, ohne Erklärung. (Es war Ausgangspunkt des einzigen veritabeln Skandals, den ich in einem Abonnementskonzert der Bernischen Musikgesellschaft – so um 1965 herum – erlebt habe.)

 

Kritik bedarf nicht bloss der Methode, sondern, wenn sie etwas öffnen soll, auch der Phantasie, Vorstellungskraft und einer tragfähigen Sprache. Was Patrick Frank über lost traces von Detlev Müller-Siemens schreibt, macht neugierig. Gern erführe ich darüber mehr. (Die Partitur von distant traces habe ich bereits mit grossem Interesse gelesen.) Den nützlichen Vorschlag von Moritz Müllenbach aufgreifend möchte ich – kurzfristig, «Grossorganismen » brauchen etwas länger – der Redaktion der dissonance vorschlagen, ein Diskussionsforum zu eröffnen für komponierend, spielend oder wissenschaftlich Forschende, die sich auch trauen, danebenzuhauen wie ich hier ein paar mal und einige andere in der so überaus anregenden Nr. 105, für die ich mich bei den Verantwortlichen gern bedanken möchte.

 

Patrick Frank verfasste eine Duplik zu diesem Diskussionsbeitrag.

 

Dieser Artikel erschien in dissonanz/dissonance 106, Juni 2009, S. 51–52. Die Ausgabe ist noch erhältlich und kann hier bestellt werden.

by moxi