Kontroverse über Thomas Meyers Artikel «Ist die freie Improvisation am Ende?» (dissonance 111)
Raus aus den Nischen!
Stellungnahme von Thomas Meyer zu den Repliken auf seinen Artikel
Eine weitere Stellungnahme von Thomas Meyer ist in dissonance 112 (Dezember 2010) erschienen.
Um Widerspruch hatte ich gebeten. Er ist reichlich eingetroffen. Auf jedes einzelne Gegenargument hier einzugehen ist unmöglich; zum Teil widersprechen sie einander auch – und ergeben somit ein ganzes Kaleidoskop von Standpunkten. Weil auch ein paar Missverständnisse darin sind, ist es wohl nötig, den Text nochmals kurz durchzugehen.
Den Ausgangspunkt bildete ein einzelnes Konzert. Es wurde für mich zum Fluchtpunkt gleichsam einer langen Entwicklung, die aus den 1960er Jahren heraus kam und in den beiden Jahrzehnten nach 1968 grosse gesellschaftliche Relevanz hatte. Das heisst: Hier wurden Fragen musiziert, die auch die Gesellschaft bewegten. Die (meine) geschichtliche Position wurde dabei sogleich mit eingebracht.
Abschnitt Working Bands: Über den Versuch einzelner Musiker (von den 1980er Jahren bis heute), die Flüchtigkeit der freien Improvisation in eine Kontinuität überzuführen; auch darüber, wie sich freie Improvisation weiter entwickeln lässt.
Abschnitt Die Stimme, die sprechende: Über freie Improvisation als «absolute Musik» und welchen Platz dabei der Sprache bzw. dem Theater zukommt.
Abschnitt Reden darüber: Ein paar Gedanken darüber, wie die freie Improvisation in der Schweiz reflektiert wurde, gerade in der Dissonanz (und im STV), dann aber auch in Tagungen etc. Immer noch besteht meines Erachtens hierzulande Nachholbedarf, was die Diskussion ausserhalb von Insiderkreisen angeht.
Abschnitt Das Hochschulfach: Eine Betrachtung darüber, dass sich die freie Improvisation professionalisiert hat (und was das bedeuten könnte) und über die Lehre an der Hochschule.
Bleibt der letzte Abschnitt Das Ende einer Geschichte. An ihm entzündete sich der Widerspruch am stärksten. Ich stellte die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz heute, nach dem Begriff der Freiheit, ausserdem ob die frei improvisierte Musik ihr ursprüngliches Movens verloren habe und ob sie ein Ausdrucksmittel unter vielen geworden sei. Darunter war eine Bemerkung, die viele gestört hat: dass die wichtigsten Figuren heute 50+ sind. Schliesslich die Frage, ob «ihre Geschichte mittlerweile zumindest in der Schweiz an einen Endpunkt gelangt ist». Totgesagt, notabene, habe ich die freie Improvisation nirgends!
Das Ganze war eine Einladung, ja meinetwegen auch eine Herausforderung zur Selbstreflexion (in die ich mich ausdrücklich mit einbezog). Mich interessierte es auch, über die Geschichte und die Geschichtlichkeit einer Musik nachzudenken, die aus dem Moment entsteht und sich von dort her versteht. Ich hatte Fragen gestellt, und es gab darunter durchaus ein paar Knacknüsse (wie den Begriff der Freiheit). Die Reaktionen betrafen vor allem die erwähnten Bemerkungen im letzten Teil. Man hat mich darauf hingewiesen, dass der Befund, die freie Improvisation stecke in einem Tief (was ich so nicht sagte – ich orientierte mich sogar bewusst an äusserst gelungenen Beispielen), viel eher vor acht oder zehn Jahren zugetroffen hätte, dass sich aber mittlerweile, vor allem in der Romandie und in Biel, aber auch in Bern und Luzern über die einzelnen mir bekannten Musiker hinaus eine reiche und äusserst lebendige Szene mit Festivals und einem gesamtschweizerischen Austausch entwickelt habe. Auch arbeite diese «jüngere» Generation nicht so wesentlich anders; in dieser Szene spiele der gesellschaftliche Aspekt durchaus eine wesentliche Rolle; und die Kontakte zur älteren Generation seien, zumindest teilweise, vorhanden.
Man hat von anderer Seite eingewendet, warum denn eine Musik, die sich auf höchstem Niveau bewege und ihre Kinderkrankheiten hinter sich habe, die sich also nicht mehr nach äusserlichen Kriterien «entwickeln» müsse, am Ende sein solle; da könne man doch endlich beginnen, gute Musik zu machen. Auch dieser Aspekt ist wichtig.
Ich nehme diese Korrekturen und Einwände gern zur Kenntnis. Sie bergen reichlich Potential, weiter zu diskutieren und zu denken. Zum Beispiel dies: Falls die freie Improvisation an einem Ende gewesen wäre (was nicht der Fall war) und sich danach wieder eine lebendige Improvisationsszene entfaltet hätte (was ja Tatsache ist), so könnte man vielleicht sogar von einer «post-freiimprovisierten Musik» sprechen. Das könnte irgendwie befreiend wirken…
Wichtiger geworden sind jedoch mittlerweile die Hintergründe der Reaktionen, denn einige lesen den Text vor allem als Symptom: Zum einen, weil die jüngere Generation übergangen wurde, zum anderen weil der Autor als Stiftungsrat auch für die Pro Helvetia tätig ist.
Das erste ärgert den Autor natürlich, weil sein Text so eine zu leichte Angriffsfläche bietet. Dieser «blinde Flecken» ergab sich aus der Gedankenlinie des Texts, der die frei improvisierte Musik stark aus ihrer Tradition und dem (ideologiedurchsetzten) Freiheitsbegriff heraus betrachtete. Die jüngere Szene wäre ausführlich in einem anderen Text darzustellen. Grundsätzlich aber äussert sich in den Reaktionen von Seiten der jüngeren (Improvisatoren-) Generation vor allem ein tiefes Gefühl, vernachlässigt oder zuwenig beachtet zu werden, das man unbedingt zur Kenntnis nehmen sollte.
Zweitens, was meine doppelte Stellung als Journalist und Stiftungsrat der Pro Helvetia angeht: Der Vergleich mit berlusconischen Verhältnissen ist unsinnig. Ich setze mich in beiden Funktionen gleichermassen für die zeitgenössische Musik ein und bin überzeugt, dass sie sich gut trennen lassen. Es wäre auch seltsam, wenn sich Pro Helvetia von einem ihrer Stiftungsräte die Kulturpolitik vorschreiben liesse. Dennoch muss man das Unbehagen, das sich in vielen Zuschriften äussert, ernst nehmen: Wohin steuert die Förderpolitik? Welchen Platz nimmt eine nicht publikumsverwöhnte Sparte wie die frei improvisierte Musik künftig in der Vielfalt ein? Wie könnte sie sich mehr Gehör verschaffen? Wie alle Kulturschaffenden sind auch die improvisierenden MusikerInnen gut beraten, sich um Kulturpolitik zu kümmern und etwa den Entwurf der Kulturbotschaft für das Jahr 2012 genau zu studieren.
Denn Sorgen bereitet gerade der Hinweis in einigen Reaktionen auf die Nischenexistenz dieser Musik. Die Musikwelt ist heute in tausend Szenen zersplittert. Und neben dem so genannten Mainstream, der selber höchst diffus ist, mag man sich mit einer «Minderheitenkunst» in einer Nische wähnen. Sich dieser Nischen zu rühmen und sie ideologisch auszupolstern, ist aber die falsche Taktik und kann den Anschein von Arroganz erwecken. Man wird sich also die Frage nach dem Ort dieser Musik stellen müssen. Vermittlungsarbeit wäre angebracht. Und dann nichts wie raus aus den Nischen!
Thomas Meyer
(30. September 2010)