Ein turbulentes Accelerando ins Stretto
Martha Argerich spielt Chopins Prélude op. 28/4 in e-Moll
Olivier Senn, Lorenz Kilchenmann, Marc-Antoine Camp
Vor erst zwanzig Jahren postulierten Eric F. Clarke und Neil Todd, dass Interpreten westlicher Kunstmusik expressive Mittel einsetzen, um ihre Perspektive auf die strukturellen Gegebenheiten einer Komposition zu vermitteln. Interpretationsanalysen können demnach die charakteristischen Elemente einer Interpretation untersuchen, um von der jeweiligen Interpretation hervorgehobene strukturellen Gegebenheiten zu entdecken – eine analytische Methode, die als «inverse Interpretation» gedeutet werden kann. Dieser Aufsatz präsentiert eine inverse Interpretation von Martha Argerichs expressivem «Timing» in den Takten 13 bis 16 von Chopins Prélude op. 28/4 in e-Moll in ihrer 1975 bei der Deutschen Grammophon erschienenen Studioaufnahme. Die Autoren zeigen anhand weniger Sekunden Musik, eben den Takten 13 bis 16, dass und wie Argerich das
accelerando an dieser Stelle als Spiegel struktureller Gegebenheiten des Partiturtextes gestaltet.