Laudatio für Franz Furrer-Münch
Zur Verleihung des Kompositionspreises Marguerite Staehelin 2010 im Rahmen des Schweizerischen Tonkünstlerfests am 12. September 2010 in Luzern
Meine Damen und Herren,
ich freue mich über die Ehre, Ihnen hier einen Komponisten vorstellen zu dürfen, bei dem es auch zu fragen gilt: Warum muss man ihn überhaupt noch vorstellen?
Seine stark angegriffene Gesundheit hat es ihm leider nicht ermöglicht, der Ehrung persönlich beizuwohnen. Franz Furrer-Münch ist aber mit seinen Gedanken bei uns. Und mit einigen Zitaten aus persönlichen Äusserungen.
Komponisten werden oft gefragt, was sie vor dem berühmten leeren Blatt Papier empfinden. Die indirekte Frage nach dem kreativen Prozess irritiert Franz Furrer-Münch. Man könnte ebenso gut nach seinen Gefühlen beim Anblick des Schwungrades einer Kraftmaschine fragen, meinte er einmal dazu: Das Schwungrad fordere entweder zum passiven Bestaunen des Kräftesystems der Maschine oder aber zum aktiven Eingreifen in die Kraftübertragung heraus. Das Notenpapier sei nichts anderes als die Ebene, auf der sich seine Gedankenexperimente abspielen.
Diese Antwort mag auf Anhieb überraschen. Sein Denken und Handeln ist geprägt von Gedankenexperimenten des Wissenschafters. Keine Angst, es geht nicht um trockene oder abstrakte Versuchsanordnungen, im Gegenteil: Spiel durchzieht sein ganzes Werk – Anspielungen, verspielter Witz, umspielte Töne.
Franz Furrer-Münch ist beseelt von einem unbändigen Entdeckerwillen, der den Dingen auf den Grund geht, gleichsam in die Töne hineinkriecht, sie vergrössert, neue Klangmischungen erprobt, feinste Schattierungen ertüftelt.
Wichtig ist ihm, dass die Zuhörerin, der Zuhörer an seinen musikalischen «Erlebnislandschaften» und deren Botschaften teilhat. In seinen Worten: «Die Botschaft ist immer mit dem Etikett ‹Flaschenpost› versehen. Man darf nicht erwarten, dass die Hörer die Wanderschuhe anziehen, um die Kartengrüsse des Absenders zu durchwandern.
Genau vor zwanzig Jahren wanderte ich selber erstmals auf diesen Spuren und begegnete seinen Images sans Cadres für Sopran und 4 Klarinetten (1982). Mich erstaunte – und begeisterte – die stilistische Offenheit, die in dieser Zeit auffiel. Es sind Ton-Bilder, direkt, ohne Rahmen, Einführung, Vermittlung: eben Images sans Cadres.
Ich hatte damals eine meiner ersten CD-Kritiken zu schreiben. Vielleicht aus Unsicherheit in der Beurteilung schwangen unterschwellig offenbar auch negative Untertöne mit. Jedenfalls sind ein, zwei Worte dem Komponisten aufgestossen. Er kritisierte mich aber nicht, sondern fragte einfach nach, was ich denn mit einem bestimmten Begriff gemeint hätte, beschämte so den jungen Musikkritiker und lehrte ihn, seine Worte künftig noch sorgfältiger zu gebrauchen. Franz Furrer-Münch ist streng mit sich selbst – aber auch mit andern.
1991, ein Jahr später also, hörte ich ihn erstmals im Konzert mit dem Ensemble für Neue Musik Zürich, das bald zu seinem Hausensemble wurde. Ich freue mich, dass dessen künstlerischer Leiter und Flötist, Hans-Peter Frehner, heute unter uns ist und nachher stellvertretend für Franz Furrer-Münch die Ehrenurkunde in Empfang nehmen darf. Gerade in einem Programm, in dem sich Jungkomponisten an Raffinesse und Kraftmeierei zu übertrumpfen suchten, fiel sein Werk auf: hochkonzentrierte Musik, unprätentiös und gerade darum so eindringlich, kompromisslos radikal.
Jetzt wird Franz Furrer-Münch auch vom Schweizerischen Tonkünstlerverein programmiert, der ihm hier und heute dessen höchste Ehrung überreicht.
Franz Furrer-Münch ist ein Spätberufener. 1977 äusserte er sich am Schweizer Radio: «Ich war von Kind an ein ausgesprochen kreativer oder zumindest ein seh- und hörbedürftiger Mensch, ein Träumer, doch diese Anlagen keinem nützlichen oder messbaren Begriff zu unterstellen, stiess im Elternhaus nicht auf Gegenliebe.»
Der 1924 in Winterthur geborene machte eine kunstgewerbliche Ausbildung, studierte dann Naturwissenschaften und Musiktheorie in Basel, belegte musikwissenschaftliche Vorlesungen an der Universität Zürich sowie Vorlesungen für Kunst‑ und Architekturgeschichte an der ETH. Er erzählt weiter: «Wie jeder Mensch habe auch ich meine Utopien zum Lebensentwurf, die ich in der Kreativität zu konkretisieren versuche. Utopie heisst Wunschland, Nirgendland, Zukunftsland, ein Begriff, mit dem man vorsichtig umgehen muss.» Vorerst arbeitete er aber während zwanzig Jahren in einem Brotberuf als Lehrer und Forscher am kartographischen Institut der ETH Zürich in der Bildverarbeitung. Daneben weilte er zu Studien in Deutschland, am Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung, sowie in den USA. Er experimentierte viel: baute eigene Instrumente, schuf erste graphische Partituren.
Eine erste breitere Öffentlichkeit erreichte er 1979 bei der internationalen Amriswiler Orgeltagung mit der Psalmodie …und sie schreien nicht nur aus Not für Sprecher, Orgel und Schlagzeug (1978). Dem Auge bietet die Partitur eine fast dadaistische Collage mit Abbildungen von stechenden Blicken, Schaukelstühlen, einer Seifenverpackung; sogar eine Briefmarke ziert die Noten. Furrer-Münch ist jedes äusserliche Pathos fremd. Der Komponist verlangt nach einer Darstellung, die gleichzeitig ins Innere zielt und eine ironische Distanz wahrt. Seine Vortragsanweisung lautet deshalb: «Scheinbar gleichförmig: Lautmaterial mit verhaltener Expressivität und innere Spannung variieren.» Das folgende Vorwort kann man als Anleitung für das ganze Œuvre lesen: «Das im Detail feingliedrige Werk verlangt eine einfühlsame Interpretation. Die Vortragsart sollte generell ruhig und von engagierter Überlegenheit sein. Obwohl das Werk ein hohes Mass an Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet, sind clichéhafte, im ‹nur Virtuosen› verankerte manieristische Überhöhungen unerwünscht.» Und dann beginnt das Werk in der Orgel: wie ein Blitz aus heiterem Himmel! «Auf den Punkt bringen» – das findet man auch später immer wieder, nicht aber die politisch-gesellschaftliche Botschaft. Auch die eigens für dieses Werk ersonnene Notation verfolgte er bewusst nicht mehr weiter: «Es entspricht meiner Wesensart, meine Gedanken in klarer Form zu vermitteln. Ich mag nichts dem Zufall überlassen.»
Man muss Franz Furrer-Münch in die Noten schauen: Die Notenschrift ist geradezu kalligraphisch. Sie kündet von Geradheit, Ehrlichkeit, Unbestechlichkeit und Konzentration auf das Wesentliche. Die Partituren sind klar gesetzt, sachlich, in Kleinschrift, sparsam bezeichnet und gestochen scharf. Jede Note ist gefasst wie ein Edelstein. Jeder Einzelton wird belebt. Jede Vokalsilbe wird gesetzt, gefärbt von Instrumenten, leuchtet kurz auf, erstrahlt, verklingt. Franz Furrer-Münch liebt Ganze Noten. Es ist Musik, die sich Zeit lässt. Einmal schreibt er: «Tempo so langsam wie möglich, an der Grenze des eben noch Erträglichen.»
So wie er die Konkrete Poesie eines Eugen Gomringer verehrt, so könnte man bei ihm von einer Konkreten Musik sprechen. Musik, die einfach da ist. Eine Musik von grosser innerer Schönheit, die von einer Utopie kündet und unmittelbar berührt.
Mit sechzig Jahren erhielt er 1984 erstmals einen Kompositionsauftrag der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia. Fünf Jahre später trat er an der ETH in den Ruhestand und wurde freischaffender Komponist. 1993 schrieb Thomas Meyer in der Zeitschrift dissonanz des Tonkünstlervereins den wegweisenden Artikel Aus dem Notenbuch eines Träumers: Der Komponist Franz Furrer-Münch (pdf 3.7 mb), aus dem einige der vorher zitierten persönlichen Zeugnisse entnommen sind.
1999 erhielt Franz Furrer-Münch sein erstes CD-Portrait mit dem Ensemble für Neue Musik Zürich, das sein Werk fast repertoiremässig pflegt und bis nach Hong Kong bekannt gemacht hat. 2002 folgte mit dem Zolliker Kunstpreis die erste öffentliche Würdigung. Und mit fast achtzig Jahren schreibt er erstmals für Orchester. Symphonische Blätter. Auch hier: kein gewohnter Orchesterklang, sondern die gleiche Liebe zum Detail, die sich in den folgenden Partituranmerkungen wiederfindet: «Den einzelnen Tönen ist das Individuelle im Sinne von ‹erscheinen – verschwinden› zugedacht. Es ist erwünscht, die Zeit zwischen den Tönen, das ‹Werden›, spürbar zu machen. Der Traum der solistisch ausgerichteten Virtuosität, verstanden als spielerische Überwindung von technisch-musikalischen Schwierigkeiten bis zur Grenze des Möglichen und darüber hinaus in den Warteraum von Gefährdung und Absturz, ist zum Schicksal des ganzen Orchesters geworden.»
Franz Furrer-Münch ist unbestechlich. Mit grosser Hartnäckigkeit geht er seinen Weg. Unbeirrt. Er geht nicht zu den Musikern – sie kommen zu ihm. Wie heute. Hier und heute im KKL wäre es ihm sicherlich ein wenig unwohl. Aber er lächelt still. Das erinnert mich an den Werktitel Stille in Falten. Und er freut sich mit seinen Freunden über die hochverdiente, späte Ehrung.
Thomas Gartmann,
Luzern, 12.9.2010